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“Pepperminta ist mein Vorbild”

http://www.pepperminta.ch/

Pepperminta kämpft mit Farben und Phantasie für eine menschlichere Welt. Sie überwindet ihre Ängste, befreit sich vom Korsett der Konventionen. Pipilotti Rists erster Spielfilm ist eine Anleitung zum Glücklichsein - und eine wahre "Augapfelmassage".

swissinfo.ch: Sie sind mit Ihren Video-Arbeiten und Installationen eine der bekanntesten Gegenwartskünstlerinnen. Weshalb nun ein Spielfilm?
Pipilotti Rist: Einen Spielfilm zu drehen, ist ein alter Wunsch von mir. Es ist auch eine logische Konsequenz, ich wollte gestalterisch und dramaturgisch einen Schritt weiter gehen.

Deshalb habe ich das schwierigste Format gewählt, wo die Leute 80 Minuten in eine Richtung schauen.

swissinfo.ch: Bei Ihrem ersten Spielfilm drängt sich sofort die Frage auf: Wieviel von Pepperminta ist Pipilotti?

P.R.: Sie ist eher wie ich gerne wäre als wie ich bin. Beide Namen stammen von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf, die eigentlich Pippilotta Viktualia Rollgardina Pepperminta Ephraims Tochter heisst.

In dem Sinn verbindet uns unser Lebensanspruch: Wir beide denken, dass es wichtig ist über die eigenen Ängste hinwegzujucken. (Pause) Aber leider bin ich nicht so stark wie die Figur Pepperminta. Ich schaue sie als Vorbild an, als Figur, die für eine Flucht nach vorn steht.

swissinfo.ch: Ängste überwinden, das ist in Ihrem Film ein zentrales Thema. Die Angst als eine Art Selbstzensur.

P.R.: Ja, wenn wir bei den Figuren anknüpfen, ist da etwa der Hypochonder Werwen, der überlegt, was an seinem Körper nicht klappt, anstatt dass er sich auch darüber freut, was alles funktioniert und dass das Blut ununterbrochen durchzischt.

Oder die Edna, die Angst davor hat, eine Frau oder ein Mann zu sein. Sie findet diese ewige Aufteilung langweilig und könnte sich auch vorstellen, dass es zehn Geschlechter gäbe und nicht nur zwei.

swissinfo.ch: Was sind denn Ihre persönlichen Ängste?

P.R.: (Pause) Dass ich jetzt keine Antwort weiss (lacht). Ich habe die normalen Ängste. Angst, falsch verstanden, zu schlecht oder zu gut behandelt zu werden.

swissinfo.ch: In “Pepperminta” hilft namentlich die “Augapfelmassage”, die richtige Kombination von Farben, die Angst zu besiegen. Wie überwinden Sie selbst Ihre Angst?

P.R.: Mit autogenem Training. Wenn ich Angst habe, dann muss ich wie Pepperminta tief ein- und ausatmen. Weil sich dann meine Unterschenkel verkrampfen, mache ich Stretching. Ich lege ein Bein auf den Tisch, kippe mit dem Körper nach vorne und halte mit den Händen die Füsse fest.

Wichtig ist auch, mit Freunden darüber zu sprechen. Denn oft sind Ängste ja nur eine verzerrte Wahrnehmung der Realität, und wenn man über sie hinwegkommt, merkt man: Es war gar nicht so schlimm, wie ich mir vorgestellt hatte.

swissinfo.ch: Pepperminta setzt sich über Konventionen hinweg, turnt auf Autos herum, serviert den Gästen in einem Nobelrestaurant blaue Spaghetti und mit Legos garnierte Braten. Damit eckt sie auch an, Türen werden ihr zugeschlagen.

P.R.: Konventionen sind mein Forschungsgebiet. Ich untersuche, welche davon sind nötig, um uns voreinander zu schützen, um zu überleben, um eine gewisse Ruhe und Ordnung im Leben herzustellen.

Viele Konventionen befolgen wir jedoch einfach, weil wir die Zeit, die Lust oder die Fantasie nicht haben, sie zu brechen – oder auch einfach Angst.

Der Film zeigt auch, dass wir eigene neue Rituale und Konventionen erfinden können. Denn wir haben über Generationen die Welt so hingebüschelt wie sie ist – die heutige Gesellschaft ist nicht naturgegeben.

swissinfo.ch: Ein Ritual, das Sie im Film kreieren, ist das Trinken von Menstruationsblut zur Verbrüderung. Ein Tropfen Mens-Blut in Peppermintas Farbgemisch macht sie und ihre Crew zudem unschlagbar. Weshalb spielt das Mens-Blut im Film so eine zentrale Rolle?

P.R.: Das Menstruationsblut ist im Film nicht so zentral, wie es in den Schweizer Medien behandelt wird.

Gleichzeitig ist es interessant, dass der ganze Film so oft auf dieses Motiv angesprochen wird und es zeigt für mich, dass zentrale zwischenmenschliche Veränderungen nur über mehrere Generationen erfolgen können.

Wenn wir uns in den Finger schneiden, schlecken wir das Blut auch ab. Wieso soll Mens-Blut “unabschleckbarer” sein? Wieso gibt es kein Fest, wenn ein Mädchen die Periode kriegt, wieso getraut sich niemand, mit einem Tampon herumzulaufen?

Es geht mir bei diesem Geschichtsstrang des Films um eine Hypothese, um ein behauptetes Ritual, das uns die Möglichkeit gibt, über andere mögliche Rituale nachzudenken.

swissinfo.ch: Pepperminta kämpft mit Farben für eine menschlichere Welt. Ist das nicht ein bisschen einfach?

P.R.: (Pause) Ja, aber es ist einfach (lacht).

Farbe steht für alles, was wir sehen. Man sollte Farben nicht unterschätzen. Sie werden in unserer Gesellschaft ja eher als Oberfläche gesehen, doch es sind Strahlen, die die Zäpfchen und die Stäbchen auf der Netzhaut berühren.

Die gleichen Farben sind je nach Tageszeit ganz anders, aber unser Hirn kann uns eine eingebildete Konstanz vermitteln.

swissinfo.ch.: Sie spielen im Film mit Stereotypen – hier die grauen, faden Polizisten und Professoren, dort die bunte Truppe von Pepperminta. Ist das nicht zu schwarz-weiss?

P.R.: Da geht es wieder um die eben angesprochene Einfachheit der Filmgeschichte. Pepperminta ist ein zeitgenössisches Märchen, und es gehört zum Stilmittel eines Märchens, die Handlung, Protagonisten und Antagonisten vereinfacht und auch überhöht darzustellen.

Pepperminta hat sicher eine sehr poetische Erzählweise, und ich wünsche mir, dass die Leute mit einer guten Offenheit den Film anschauen gehen. Die ersten Publikumsreaktionen zeigen mir, dass der Film von Jungen und Alten verstanden wird. Darum sind Märchen ja da.

swissinfo.ch: Sie thematisieren in Ihren Werken häufig Glück als Utopie. In Pepperminta gibt es ein Happy End.

P.R.: Das Happy End fungiert hier als Illusion, aber auch als Mutmacher, dass man das Leben in den Griff kriegt. Weil das Leben selber ist oft sehr brutal und unvorhersehbar. Kunst gibt einem unter anderem das Gefühl, dass man die Realität gestalten und bestimmen kann.

swissinfo.ch: Die als Auge inkarnierte Grossmutter gibt Pepperminta immer wieder Lebensweisheiten mit auf den Weg. Der Film erinnert streckenweise an eine Anleitung zum Glücklichsein.

P.R.: Es würde mich freuen, wenn die Zuschauer mit einem Glücksgefühl aus dem Kino kämen.

Der Vorbildfilm “Pippi Langstrumpf” hat zwar sehr viele Kinder beeinflusst, doch sie haben nicht tel quel die Handlungen kopiert. Allein schon die Möglichkeit, allein schon die Vorstellung dieser Phantasie-Welt kann einem Mut vermitteln.

swissinfo.ch: Wird es schon bald einen neuen Film von Pipilotti geben?

P.R.: Das muss ich davon abhängig machen, ob dieser Film die Leute berührt.

Die super Produzenten von Hugofilm und die wunderbare Crew jedenfalls wären sofort wieder dabei, haben sie gesagt.

Es wird sich nun zeigen, ob das Monster zu den Menschen sprechen kann, ob ich es gut erzogen, gut in Ketten gelegt habe.

Corinne Buchser, swissinfo.ch

“Mach immer, was du dich nicht traust und schau, was passiert.” Pepperminta folgt dem Ratschlag ihrer Grossmutter, die als Augapfel inkarniert zu ihr spricht, den sie in wie ein Schatz in einer kleinen Truhe hütet.

Pepperminta mit den grossen blauen Augen, den Sommersprossen und den roten Haaren turnt auf im Stau stehenden Autos herum und meditiert auf Briefkästen.

An der Universität verwandelt sie mit ihrer Vorlesung den Saal in eine orgiastische Party. Im Nobelrestaurant tischt sie den Gästen blaue Spaghetti und mit Legos garnierte Braten auf.

Immer wieder eckt Pepperminta an. Doch sie überwindet ihre Ängste, lässt sich von all den “Wenn das jeder machen würde” nicht beirren.

Die moderne Pippi Langstrumpf hilft auch den anderen, ihre Ängste zu besiegen. Zusammen mit dem Hypochonder Werwen und Tulipan, die weder Frau noch Mann sein will, kämpft sie mit Farben für eine menschlichere Welt.

Peppermintas Welt ist bunt wie ein Packung Smarties. Zentral ist die Farbe Rot, die Farbe des Lebens, wie Rist sagt: rote Schnecken, Erdbeeren, Tulpenfelder.

Neben Blut spielt im Film auch Wasser eine wichtige Rolle: Pepperminta taucht immer wieder in die schwerelose Welt des Wassers ab.

Rist spielt mit unkonventionellen Stilmitteln: Verlangsamung und Beschleunigung, spezielle Perspektiven, farblich verfremdete Elemente – Realität und künstliche Effekte vermischen sich.

Der Film kommt am 10. September in die Schweizer Kinos.

Pipilotti Rist, 1962 als Elisabeth Charlotte im St. Gallischen Grabs geboren, wurde mit ihren Videoarbeiten und Installationen zu einer der bekanntesten Gegenwartskünstlerinnen.

Von 1988 bis 1994 war sie Mitglied der Musikband und Performance-Gruppe “Les Reines Prochaines”, mit der sie auch einige Platten veröffentlichte.

Rist wurde zur künstlerischen Leiterin der Schweizer Landesausstellung Expo.01 (realisiert als Expo.02) ernannt, trat aber 14 Monate nach der Ernennung von dem Amt zurück.

Im Jahr 1997 war sie erstmals auf der Biennale in Venedig vertreten und wurde dort mit dem Premio 2000 ausgezeichnet.

2005 wurde an der Biennale Rists Videoarbeit “Homo sapiens sapiens” in der Barockkirche San Stäe gezeigt.

Kürzlich stellte das New Yorker Museum of Modern Art im Atrium ihr Werk “Pour Your Body Out” aus.

Rist lebt mit ihrer Familie in Zürich.

Pipilotti Rists erster Spielfilm “Pepperminta” wird am 5. September an der 66. Filmbiennale in Venedig gezeigt. Der Film läuft im Wettbewerb “Orizzonti”.

Ebenfalls in der Sektion “Orizzonti” wird “La Perceuse” des Schweizers Raja Amaris gezeigt.

Weitere Schweizer sind in Venedig vertreten: In der Sparte “Orizzonti Doc” bewirbt sich Stefano Knuchels Dokumentarfilm “Hugo en Afrique” um einen Preis. Und in der Kurzfilm-Sektion “Corto Cortissimo” steigen Clemens Klopfenstein und sein Sohn Lukas mit “The It.Aliens” ins Rennen.

Die Filmbiennale in Venedig wurde am 2. September eröffnet und dauert bis am 12. September.

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