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Die Sprache des “Feindes” als Befreierin

Ein Schlüsselwerk: Swetlana Geier und ihre "fünf Elefanten". solothurnerfilmtage.ch

"Die Frau mit den 5 Elefanten" ist an den Solothurner Filmtagen für den "Prix de Soleure" nominiert. Der Schweizer Regisseur Vadim Jendreyko hat mit dem Dokumentarfilm ein vielschichtiges Porträt der Dostojewski-Übersetzerin Swetlana Geier geschaffen.

Für Pausen sei sie zu alt, sagt die 86-jährige kleine, weisshaarige Frau mit dem tief vornübergebeugten Oberkörper, die in 18 Jahren die fünf Schlüsselromane des russischen Autors Fjodor Dostojewski neu übersetzt hat.

Nachdem 1992 der Schweizer Verleger Egon Ammann – er kündigte letztes Jahr die Schliessung seines Verlags an – Swetlana Geier dafür angefragt hatte, “verinnerlichte” sie die Tausend Seiten dicken “fünf Elefanten” und gab ihnen mit ihrem grossem sinnlichen Sprachverständnis eine neue Stimme.

“Nase hoch beim Übersetzen”

“Nase hoch beim Übersetzen”, diesen Rat gibt die gebürtige Ukrainerin Swetlana Geier, die seit 40 Jahren an verschiedenen Universitäten in Deutschland unterrichtet, ihren Studenten. Denn, so die bedeutendste Übersetzerin russischer Literatur ins Deutsche, “die Übersetzung entsteht immer aus dem Ganzen.”

Wenn Swetlana Geier über die Schönheiten der Sprache, die Herausforderungen der Übersetzung oder den Klang der einzelnen Wörter sinniert und die Kamera auf dem Gesicht mit den vielen kleinen Falten und den wachen blauen Augen ruht, scheint die 86-Jährige richtiggehend in der Sprache aufzugehen, strahlt sie eine unglaubliche Kraft aus.

Sei es beim Bügeln, wo sie Texte mit Stoffen vergleicht, mit dem frisch gefallenen Schnee in Melvilles “Moby Dick” oder mit dem Gefühl von Neuland in einem frisch angezogenen Bett. Oder in der Küche, wo sie anhand einer Zwiebel die Kadenz erklärt und Vergleiche zum Leben zieht.

Welt ohne Computer

In Swetlana Geiers kleinem Haus im deutschen Freiburg im Breisgau gibt es weder Computer noch Internet, hier werden noch Bleistifte gespitzt und Schreibmaschinenbänder gewechselt.

Beim Übersetzen unterstützt wird Swetlana Geier von Frau Hagen und Herrn Clodt. Die 85-jährige, seit Jahrzehnten treue Assistentin tippt die Sätze in die Schreibmaschine, die Swetlana Geier ihr diktiert, in einem alten Sessel sitzend, über die Seiten von Dostojewskis Werk gebeugt, die sie mit ihren von der Zeit gezeichneten Fingern fest umfasst hält.

Anschliessend werden die Manuskripte von dem pensionierten Musiker Herr Clodt mit unerbittlicher Strenge Satz für Satz auf Sprachmelodie und Stil durchgelesen, während Swetlana Geier die Korrekturen akribisch mit Bleistift notiert.

Dabei liefern sich die beiden immer wieder kleine verbale Schlagabtausche über Kommas und Gedankenstriche, über einzelne Formulierungen und Interpretationsfragen. Trotz seiner Hartnäckigkeit muss dabei Herr Clodt vor Swetlana Geiers kompromissloser Achtung für den Autoren immer wieder kapitulieren.

Dostojewski als Schlüsselwerk

Dostojewskis fünf Schlüsselwerke wurden auch zu Swetlana Geiers Schlüsselwerk. “Man übersetzt das nicht ungestraft. Ich habe unglaublich viel gelernt, nicht nur für die Profession, sondern auch für mein Leben”, sagt sie.

Es scheint als sei Swetlana Geier ins innerste von Dostojewskis Romanen vorgestossen, auch wenn diese unerschöpflich sind, wie sie sagt. Ihre Biografie wird zu einer Art Schlüssel für dessen zentrale Fragen nach der Freiheit des Menschen und danach, warum die Menschen gut oder böse sind.

Die 1923 in Kiew geborene Swetlana Geier überlebte Stalinismus und Nationalsozialismus, während um sie herum Tausende von Menschen starben.

So auch ihr Vater, der bei einer politischen Säuberungsaktion unter Stalin verhaftet und als einer der wenigen nach 18 Monaten wieder entlassen worden war. Die 16-jährige Swetlana Geier pflegte ihn einen Sommer lang, dann erlag er den Folgen der Folterungen. Seine Uhr trägt sie bis heute an ihrem schmalen Handgelenk.

Die Schüsse, mit denen nach dem Einmarsch der Deutschen ein SS-Sonderkommando in einer Schlucht in der Nähe von Kiew 30’000 Juden hinrichtete, darunter ihre beste Freundin, hallen bis heute in ihren Ohren.

Sprache des “Feindes”

Wegen ihrer guten Deutschkenntnisse, die sie als Kind im Privatunterricht erworben hatte, verhalf ihr ein Nazi zu einer Stelle.

Sie könne es nicht ändern, sie habe damals diesen Mann keine Sekunde lang mit dem was geschah in Verbindung gebracht, sagt sie im Film.

1943 flüchtete sie mit ihrer Mutter nach Deutschland, wo die beiden in einem Ostarbeiterlager landeten. Nach einer Begabten-Prüfung erhielt sie ein Humboldt-Stipendium und studierte nach Kriegsende in Deutschland Germanistik und Vergleichende Sprachwissenschaft. Der Beamte, der sich für sie eingesetzt hatte, wurde an die Ostfront geschickt.

Die Sprache des “Feindes” wurde für Swetlana Geier in gewisser Weise zur Befreiung und zum Grundstein für ein neues Leben.

Sie sei dem Leben etwas schuldig, sagt Swetlana Geier, die mit ihren Übersetzungen zur Vermittlerin zwischen den Kulturen wurde. “Ich glaube, dass jede geistige Erfahrung dazu beiträgt, dass man sich besser behandelt und nicht unbedingt totschlägt.” Für sie steht Dostojewski, für den der Zweck nicht die Mittel heiligt, im scharfen Gegensatz zu allen Potentaten der Welt.

Frage nach der Identität

Nach einem schweren Arbeitsunfall ihres Sohnes – der später wie ihr Vater an seinen Verletzungen erliegen wird – bricht Swetlana Geier nach 65 Jahren das erste Mal zu einer Reise nach Kiew auf: Gestützt von ihrer Enkelin geht sie durch die winterlichen Strassen, konfrontiert mit dem ungeheuren Schmerz der Erinnerung, den auch die dicke Schneedecke über der Stadt nicht zu dämpfen vermag.

Mit seinem Dokumentarfilm “Die Frau mit den 5 Elefanten” macht auch der Schweizer Regisseur Vadim Jendreyko in gewisser Weise eine Reise zu seinen Wurzeln. Jendreyko, der mit vier Jahren aus Deutschland in die Schweiz kam, hat einen ukrainischen Namen. Sein Urgrossvater stammt aus den Masuren.

In seinen Filmen beschäftigt sich Jendreyko immer wieder mit der Frage nach der eigenen Identität, mit Migranten- und Flüchtlingsschicksalen. So auch im Dokumentarfilm “Bashkim” über den kosovarischen Gastarbeitersohn und Thaiboxer Bashkim Berisha, mit dem Jendreyko 2002 den Schweizer Filmpreis gewann.

Im Gegensatz zur sprachgewandten Swetlana Geier leidet Bashkim unter seiner Sprachlosigkeit, fühlt er sich in keiner Sprache zu Hause, kann sich nicht mitteilen. Die Gewalt wird zu seiner Ausdrucksform. “Sprache beinhaltet immer auch ein Stück Freiheit”, sagt Jendreyko. “Je weniger jemand die Sprache beherrscht, desto grösser ist die Ohnmacht.”

Corinne Buchser, swissinfo.ch

Swetlana Geiers Neuübersetzungen von Dostojewskis fünf Schlüsselwerken sind im Schweizer Ammann Verlag erschienen.

Den Titel “Schuld und Sühne” übersetzte sie mit “Verbrechen und Strafe” (1994), aus “Die Dämonen” machte sie “Böse Geister” (1998), aus “Der Jüngling” wurde “Ein grüner Junge” (2006).

Zu den “fünf Elefanten”, die Swetlana Geier neu übersetzte, gehören zudem “Der Idiot” (1996) und “Die Brüder Karamasow” (2003).

Weitere Dostojewski-Übersetzungen von ihr sind “Der Grossinquisitor” (2001), “Der Bauer Marej” (2008) und “Der Spieler” (2009).

Swetlana Geier ist eine der wenigen Übersetzer, die nicht in ihre Muttersprache, sondern in die Zweitsprache übersetzen.

Für ihre Vermittlung russischer Kultur, Geschichte und Literatur erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Preis der Leipziger Buchmesse 2007.

Vadim Jendreyko wurde 1965 in Deutschland geboren und ist in der Schweiz aufgewachsen. Er lebt in Basel.

2002 gründete er zusammen mit Hercli Bundi die Mira Film GmbH.

Für seinen Dokumentarfilm “Bashkim” gewann er 2002 den Schweizer Filmpreis.

Der Dok-Film “Die Frau mit den 5 Elefanten” war 2009 für den Europäischen Filmpreis nominiert.

Die Frau mit den 5 Elefanten Vadim Jendreyko | doc 94’
Nel giardino dei suoni Nicola Bellucci | doc 84’
La guerre est finie Mitko Panov | fic 106’
Dharavi, Slum for Sale Lutz Konermann, Rob Appleby | doc 80’
Face au juge Pierre-François Sauter | doc 73’
Waffenstillstand Lancelot Von Naso | fic 95’
Lourdes Jessica Hausner | fic 96’
Breath Made Visible Ruedi Gerber | doc 80’

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